Im Oktober 2019 haben der Rat und das Europäische Parlament eine Richtlinie zum Schutz von Hinweisgebern erlassen. Die Umsetzung in nationales Recht muss bis zum 17. Dezember 2021 erfolgen. Eine Umsetzung in der laufenden Legislaturperiode ist aufgrund von Unstimmigkeiten innerhalb der Koalition praktisch ausgeschlossen. Angesichts der Komplexität der Materie ist zudem unsicher, ob der neu gewählte Bundestag rechtzeitig ein Umsetzungsgesetz erlassen wird. Viele Unternehmen bereiten sich daher derzeit auf eine Situation erheblicher Rechtsunsicherheit vor.
Zentralisierter Ansatz unzulässig?
Zusätzlich zeichnet sich eine Kontroverse mit der EU-Kommission ab, wie die Richtlinie auszulegen ist. Dabei geht es im Kern um die Frage, ob die heute in Konzernstrukturen vielfach zentral organisierten Hinweisgebersysteme zumindest teilweise dezentralisiert werden müssen. Dies legt jedenfalls ein Schreiben der EU-Kommission von Anfang Juni nahe. Nach Auffassung der Kommission verlange die Richtlinie auch in Konzernstrukturen, dass jedes Konzernunternehmen mit mehr als 249 Mitarbeitern grundsätzlich über ein eigenes Hinweisgebersystem verfügen muss. Es soll zwar zulässig sein, dass im Einzelfall Dritte den Berichtskanal für das Unternehmen betreiben. Der Dritte sei dann jedoch darauf beschränkt, den Hinweis entgegenzunehmen und dessen Eingang gegenüber dem Hinweisgeber zu bestätigen. Sämtliche Folgemaßnahmen (Aufklärung etc.) müssten jedoch durch die zuständigen Stellen innerhalb des Konzernunternehmens, d.h. dezentral erfolgen. Die Ergebnisse der Aufklärungsmaßnahmen dürften dann nachträglich mit der Konzernmutter geteilt werden.
Gleichzeitig sollen jedoch zentral betriebene Hinweisgebersysteme nicht ausgeschlossen sein. Es stehe den Unternehmen vielmehr frei, zusätzlich auch zentrale Hinweisgebersysteme auf Ebene der Konzernmutter zu betreiben. Sollte ein Hinweisgeber aus einem Konzernunternehmen das zentrale Hinweisgebersystem nutzen, sollten die Hinweise dort entgegengenommen und entsprechende Aufklärungsmaßnahmen ergriffen werden. In dezentral gemeldeten Sachverhalten, die strukturelle Probleme erkennen ließen, mehrere Konzernunternehmen beträfen oder einen grenzüberschreitenden Aufklärungsansatz erforderten, soll es zudem zulässig sein, den Hinweis nach vorheriger Einwilligung des Hinweisgebers an die zentrale Compliance-Funktion weiterzugeben. Es läge an den Unternehmen, durch entsprechende Regelwerke Vertrauen in das zentrale Hinweisgebersystem zu schaffen. Informationskampagnen etc. könnten dazu beitragen, dass Hinweisgeber von vornherein das zentrale Hinweisgebersystem nutzen.
Schwächung vorhandener Compliance-Management-Systeme
Diese Auslegung der EU-Kommission würde indes die Wirksamkeit der vorhanden Compliance-Management-Systeme schwächen und zu einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand führen. Gerade der europäische Normgeber nimmt bei Compliance-Pflichten und Haftungsfolgen von Compliance-Verstößen immer stärker auch verbundene Unternehmen in den Blick. Entsprechendes gilt für die deutsche Rechtspraxis, die zunehmend eine Konzernverantwortung betont. Würden nun lediglich die Ergebnisse der dezentral durchgeführten Folgemaßnahmen – u.U. mit erheblichem Zeitversatz – an die zentrale Compliance-Funktion gemeldet, würde dies die Wahrnehmung einer möglichen Konzernverantwortung deutlich erschweren.