Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine haben sich viele deutsche und internationale Unternehmen aus Russland zurückgezogen oder haben ihre dortigen Geschäfte deutlich zurückgefahren. Auch Unternehmen, die sich nicht explizit zum Rückzug entschlossen haben, sehen sich mit angeschlagenen Tochtergesellschaften konfrontiert. Als Reaktion auf diese Entwicklungen hat Russland diverse Gegenmaßnahmen entweder bereits gesetzlich verankert oder angedroht, die gegen rückzugswillige Unternehmen gerichtet sind oder die Übernahme angeschlagener Unternehmen zum Ziel haben. So wird in Russland beispielsweise derzeit über einen Gesetzesentwurf beraten, wonach Tochtergesellschaften unter externe Verwaltung gestellt und im Anschluss liquidiert werden sollen, ohne dass die sich aus Russland zurückziehenden deutschen und internationalen Unternehmen hierfür eine Entschädigung erhalten.
Was also sind die Risiken?
Das sich in Russland befindliche Vermögen deutscher und internationaler Unternehmen ist vielfältigen Risiken ausgesetzt. Jede Woche werden neue Gesetze und Dekrete erlassen, die sich auf sämtliche Aspekte des Geschäftslebens auswirken – vom Unternehmenseigentum über den Kapitalverkehr bis hin zu geistigem Eigentum. Es wird etwa berichtet, dass russische Behörden die Vermögensgegenstände russischer Tochtergesellschaften von multinationalen Konzernen beschlagnahmen. Oft bleibt den Unternehmen nur die Wahl, ihre Vermögenswerte entweder im Rahmen von Notverkäufen zu veräußern, sie aufzugeben oder die Insolvenz ihrer russischen Tochtergesellschaften in Kauf zu nehmen. Es ist unsicher, ob sich vor russischen Gerichten ein verlässlicher Rechtsschutz erreichen lässt. Unternehmen sollten daher den durch internationales Recht gewährten Rechtsschutz bei ihrer Entscheidungsfindung über die Zukunft ihrer Tochtergesellschaften berücksichtigen.
Als Rechtsgrundlage für einen solchen Rechtsschutz gegen völkerrechtswidrige Maßnahmen eines ausländischen Staates können sich internationale Investoren auf bilaterale Investitionsschutzabkommen ("BITs") berufen. Aktuell sind 63 BITs zwischen Russland und anderen Nationen in Kraft, darunter große Industrienationen wie Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich und die Niederlande. Darüber hinaus hat Russland – zusammen mit der Europäischen Union – den Energiecharta-Vertrag ("ECT"), einen internationalen Vertrag über den Energiesektor, unterzeichnet. Diese BITs und der ECT bieten Investoren aus den Vertragsstaaten materiell-rechtlichen Schutz gegen Maßnahmen, die von Russland gegen ihr Vermögen verhängt werden. Insbesondere haben Investoren die Möglichkeit, eine umgehende, angemessene und wirksame Entschädigung für enteignetes Beteiligungsvermögen zu beanspruchen.
Die Ansprüche der Investoren können vor internationalen Schiedsgerichten geltend gemacht werden. Diese Schiedsgerichte sind vom Gerichtssystem des jeweiligen Landes unabhängig und bilden das Herzstück des internationalen Streitbeilegungsmechanismus für Investor-Staat-Konflikte.
Es ist allgemein bekannt, dass Russland nur widerwillig an internationalen Schiedsverfahren teilnimmt oder aufgrund eines Schiedsspruchs auferlegte Zahlungen leistet. Die Durchsetzung von Ansprüchen aus internationalen Investitionsschutzabkommen vor einem Schiedsgericht wird folglich eine Herausforderung darstellen. Diese Herausforderung sollte Investoren jedoch nicht schon von vornherein davon abhalten, den ihnen nach internationalem Recht zustehenden Schutz ihrer Investition einzufordern. Selbst wenn ein Schiedsspruch zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirksam durchgesetzt werden kann, wird er sich bei zukünftigen Verhandlungen über eine mögliche Rückkehr auf den russischen Markt als Verhandlungsmasse erweisen. Außerdem ist die Durchsetzung von Investorenrechten ein weiteres Mittel, um Russland für die Folgen seiner rechtswidrigen Invasion der Ukraine zur Rechenschaft zu ziehen.
Da sich die aktuelle Situation so schnell verändert, kann sich auch unsere Bewertung der Sachlage ändern. Wenn Sie konkrete Fragen zu einzelnen Vermögenswerten haben, wenden Sie sich bitte an unsere Experten.