Die Bundesregierung hat am 16. August 2023 den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof beschlossen. Das Leitentscheidungsverfahren soll für die Entlastung der Gerichte bei Massenverfahren sorgen.
Mit dem Gesetzentwurf reagiert die Bundesregierung auf entsprechende Forderungen aus Justiz und Politik. Insbesondere im Zuge der Abgasthematik habe sich gezeigt, dass bei Massenverfahren erst die höchstrichterliche Klärung der zentralen Rechtsfragen eine schnelle und effektive Bearbeitung durch die Instanzgerichte ermöglicht. Eine höchstrichterliche Klärung hängt aber davon ab, dass der Bundesgerichtshof über einen geeigneten Rechtsstreit entscheiden kann. Und es liegt grundsätzlich in der Hand der Parteien, ob sie ein Revisionsverfahren bis zum Ende betreiben. Sie können das Verfahren jederzeit, zum Beispiel durch Vergleich, einer Entscheidung in der Sache entziehen. Für die Instanzgerichte relevante Entscheidungen des Bundesgerichtshofs können dann nicht (oder erst mit Verzögerung) ergehen.
Diese sogenannte Dispositionsbefugnis will die Bundesregierung den Parteien mit dem beabsichtigten Leitentscheidungsverfahren teilweise aus der Hand nehmen. Nach dem Entwurf soll der Bundesgerichtshof zukünftig auf Grundlage eines neuen § 552 b ZPO eine bei ihm anhängige Revision durch Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen können, wenn die Entscheidung im konkreten Verfahren für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist. Eine Leitentscheidung kann dann auch bei Erledigung der Revision, etwa infolge von Vergleich oder Rücknahme, ergehen. Die Leitentscheidung entfaltet keine Bindungswirkung und führt auch zu keinen zusätzlichen Kosten für die Parteien des konkreten Falls. Auch für andere, ähnlich gelagerte Fälle entfaltet sie keine formale Bindungswirkung. Sie soll aber den Instanzgerichten in gleich gelagerten Verfahren Orientierung bieten. Faktisch ist nicht zu erwarten, dass die Instanzgerichte von einer in einem Leitentscheidungsverfahren geklärten Rechtsfrage bei vergleichbarer Sachlage abweichen. Bereits anhängige Verfahren dürfen – vorbehaltlich der Zustimmung der Parteien – bis zur Leitentscheidung ausgesetzt werden.
Das Leitentscheidungsverfahren ist neben der Verbandsklage ein weiterer Versuch, die deutschen Gerichte in Massenverfahren zu entlasten. Der Entwurf begegnet rechtlichen Bedenken im Hinblick auf die zivilprozessuale Dispositionsmaxime, da er eine Entscheidung des Rechtsstreits trotz Erledigung der Revision und gegen den Willen der jeweiligen Parteien ermöglicht. Grundsätzlich ist der Zivilprozess aber ein Verfahren, das für die jeweiligen Parteien bereitgestellt wird (und nicht für die Parteien anderer Rechtsstreitigkeiten).
Die praktischen Auswirkungen des neuen Verfahrens dürften begrenzt sein: Die Instanzgerichte können schon nach der bisherigen Rechtslage mit Zustimmung der jeweiligen Parteien ein Verfahren aussetzen, um eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs abzuwarten. Zudem muss auch im Leitentscheidungsverfahren zunächst der langwierige Instanzenweg bis zum Bundesgerichtshof beschritten werden. Parteien, die eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs in ihrem Prozess nicht wünschen, können eine Entscheidung nach wie vor verhindern. Sie müssen das Verfahren lediglich zu einem früheren Zeitpunkt (vor Einlegung einer Revisionserwiderung) beenden. Denn eine Leitentscheidung ist erst nach Eingang der Revisionserwiderung oder dem Ablauf einer hierfür gesetzten Frist möglich.
Ob das Leitentscheidungsverfahren die Gerichte spürbar entlasten wird, ist damit zweifelhaft. Der Entwurf befindet sich nunmehr im Gesetzgebungsprozess.