Am 31. August 2024 tritt das derzeit gültige KapMuG nach mehrmaligen Verlängerungen außer Kraft. Das Bundesjustizministerium hat kurz vor dem Jahreswechsel einen Referentenentwurf für eine Neuregelung des KapMuG – diesmal ohne zeitliche Befristung – veröffentlicht.
Das KapMuG wurde im Jahr 2005 eingeführt, weil die Gerichte mit den zahlreichen Verfahren im Zusammenhang mit dem dritten Börsengang der Deutschen Telekom überfordert waren. Seitdem hat sich das KapMuG in mehr als tausend Verfahren etabliert. Das Grundkonzept des Musterverfahrens ist dabei überzeugend. Die zentralen Rechts- und Tatsachenfragen eines Streitkomplexes werden einheitlich für alle betroffenen Verfahren durch ein Oberlandesgericht entschieden. Die Ausgangsgerichte werden entlastet, da sie die bei ihnen anhängigen Verfahren bis zu dieser Klärung aussetzen können. Soweit sich die Ausgangsverfahren nicht bereits durch das Musterverfahren (etwa im Wege eines Mustervergleichs) erledigen, ist im Anschluss nur noch ein stark reduziertes Prüfungsprogramm zu bewältigen.
Dieser Grundgedanke einer effizienten und einheitlichen Verfahrensbewältigung wurde in der Praxis allerdings nur bedingt verwirklicht, da die Musterverfahren vor allem in zeitlicher Hinsicht häufig ausufern. Das Verfahren um den dritten Börsengang der deutschen Telekom beispielsweise endete im Jahr 2022 erst nach mehr als 15 Jahren mit einem Vergleich.
Das Bundesjustizministerium will die Befristung des KapMuG (es tritt am 31. August 2024 außer Kraft) dazu nutzen, mit Anpassungen der bestehenden Regelungen eine Straffung des Verfahrensablaufs erreichen. Die Pläne dazu lassen sich einem am 28. Dezember 2023 vorgelegten Referentenentwurf ("KapMuG-RefE") entnehmen.
Im Mittelpunkt der vorgeschlagenen Änderungen steht danach eine Reduzierung des Verfahrensstoffs und der Beteiligten im Musterverfahren. Daneben soll eine stärkere Herrschaft des Oberlandesgerichts über den Verfahrensstoff erreicht werden. Im Einzelnen sieht der Entwurf u. a. die folgenden Änderungen vor:
In den § 7 Abs. 3 und 10 KapMuG-RefE wird das Verhältnis zwischen Prozessgericht und OLG neu geregelt. Das OLG ist – anders als bisher – nicht an die Feststellungsziele aus dem Vorlagebeschluss gebunden. Stattdessen bestimmt das OLG in einem Eröffnungsbeschluss die für das Musterverfahren relevanten und sachdienlichen Feststellungsziele nach eigenem Ermessen. Auch muss der Vorlagebeschluss keine Zusammenfassung des Sach- und Streitstandes mehr enthalten. Eine solche Zusammenfassung muss das OLG ebenfalls in den (unanfechtbaren) Eröffnungsbeschluss aufnehmen.
Bislang setzt sich der Kreis der Beigeladenen des Musterverfahrens aus allen Klägern zusammen, deren Verfahren gemäß § 8 KapMuG wegen Abhängigkeit vom Musterverfahren ausgesetzt wurden. Zukünftig werden nur noch solche Kläger Beigeladene des Musterverfahrens, die entweder einen Musterverfahrensantrag oder einen Erweiterungsantrag gestellt haben. Nach der Eröffnung des Musterverfahrens ist gem. § 11 KapMuG-RefE nur eine einmalige Erweiterung des Musterverfahrens in sachlicher und personeller Hinsicht möglich. Ein Erweiterungsantrag muss binnen zwei Monaten nach Bekanntmachung des Eröffnungsbeschlusses gestellt werden. Nur Parteien aus Verfahren, die nicht Gegenstand des Vorlagebeschlusses waren, können eine Erweiterung des Musterverfahrens beantragen.
Verfahren, die trotz Abhängigkeit von den Feststellungszielen nicht vom Vorlagebeschluss oder der einmaligen Erweiterung des Musterverfahrens umfasst sind, werden nicht mehr auf das Musterverfahren ausgesetzt. Stattdessen sind diese Verfahren gem. § 145 Abs. 5 ZPO-RefE auf Antrag einer Partei bis zum rechtskräftigen Abschluss des Musterverfahrens auszusetzen. Eine formelle Bindung an die Ergebnisse des Musterverfahrens gibt es für diese Verfahren allerdings in diesem Fall nicht.
In § 1 Abs. 3 KapMuG-RefE wird festgeschrieben, dass sich Verfahren nach dem KapMuG und dem VDuG nicht ausschließen (siehe unser Briefing zum VduG hier). Damit können künftig Verbandsklagen und Musterverfahren nach dem KapMuG parallel durchgeführt werden.
§ 6 Abs. 2 KapMuG-RefE stellt klar, dass bei einer Teilbarkeit des Streitgegenstands eines Ausgangsverfahrens über den nicht vom Musterverfahren abhängigen Teil des Rechtsstreits in einem getrennten Prozess zu verhandeln ist.
Eine Rechtsbeschwerde kann gem. § 21 Abs. 2 KapMuG-RefE nicht auf einen fehlerhaften Vorlage- oder Eröffnungsbeschluss gestützt werden.
Die Neuregelungen zur Festlegung und Erweiterung der Feststellungsziele eines Musterverfahrens dürften hilfreich sein, um das Verfahren zu straffen und zu fokussieren. Die Parteien können nach dem neuen Konzept des KapMuG-RefE nur während des Ausgangsverfahrens und im Rahmen einer einmaligen Erweiterung Einfluss auf den Streitgegenstand des Musterverfahrens nehmen (bislang sind Erweiterungsanträge in jedem Stadium des Verfahrens möglich). Das OLG setzt sich den Sachverhalt und die Feststellungsziele mit denen es sich befassen will, im Eröffnungs- und Erweiterungsbeschluss selbst zusammen. Die frühzeitige Festlegung eines klar umrissenen Verfahrensgegenstands durch das Oberlandesgericht dürfte effiziente Verfahrensführung begünstigen.
Die angestrebte Reduktion der Verfahrensbeteiligten dürfte dagegen nicht zu einer effizienteren Bewältigung der Verfahren eines Streitkomplexes führen. Die Beschränkung des Kreises der Beigeladenen auf Parteien, die innerhalb der verkürzten Fristen einen zulässigen Musterverfahrens- oder Erweiterungsantrag gestellt haben, dürfte zahlreiche Klageparteien aus dem Musterverfahren ausschließen. Für diese Klageparteien bleibt zwar die Möglichkeit einer Aussetzung nach dem neugefassten § 145 Abs. 5 ZPO. Für sie entfaltet der Musterentscheid allerdings keine Bindungswirkung. Das mag in Bezug auf Rechtsfragen faktisch folgenlos bleiben, wenn die Ausgangsgerichte der (in aller Regel vom BGH im Rahmen der Rechtsbeschwerde überprüften) Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts folgen. Anders ist das aber bei Tatsachenfeststellungen. Eine faktische Bindung an Tatsachenfeststellungen in einem nur gem. § 145 Abs. 5 RefE-ZPO ausgesetzten Ausgangsverfahren dürfte nach allgemeinen Regeln des Zivilprozessrechts nicht in Betracht kommen. Streitige Tatsachen müssten daher in jedem Prozess gesondert festgestellt werden. Damit steht dem erstrebten Effizienzgewinn (durch eine geringere Anzahl an Beigeladenen) im Musterverfahren ein Effizienzverlust (durch wiederholte Tatsachenfeststellungen) in den Ausgangsverfahren entgegen.
Unklar bleibt zudem, wie die Oberlandesgerichte über die künftig vorgesehene Erweiterung des Musterverfahrens in personeller Hinsicht entscheiden sollen. Voraussetzung von entsprechenden Erweiterungsanträgen nach § 11 KapMuG-RefE ist die Abhängigkeit des Verfahrens des Antragstellers von den Feststellungszielen im Musterverfahren. Das Kriterium der Abhängigkeit wird vom BGH so verstanden, dass nur noch Tatsachen- oder Rechtsfragen offen sein dürfen, die Gegenstand eines Musterverfahrens sind. Alle anderen Anspruchsvoraussetzungen müssen (ggf. durch Beweisaufnahme) geklärt sein. Diese häufig zeit- und ressourcenintensive Prüfung wird derzeit von den Landgerichten parallel zu bereits laufenden Musterverfahren bewältigt. Künftig müsste das OLG diese vertiefte Sachprüfung übernehmen – und zwar vor Beginn des Musterverfahrens. Das wird absehbar zu langen Verzögerungen des Verfahrensbeginns führen.
Die vom Ministerium vorgesehene verpflichtende elektronische Aktenführung kodifiziert nur die an den OLGen schon jetzt gelebte Praxis und dürfte keine wesentliche Beschleunigung der Musterverfahren zur Folge haben.
Bis zum 31. Januar 2024 haben interessierte Kreise nun die Möglichkeit Stellung zu dem Referentenentwurf zu nehmen. Wir beobachten das Gesetzgebungsverfahren weiter und informieren über die relevanten Entwicklungen.