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Neue Dynamik für die Videoverhandlung vor Gericht in Deutschland? | Hengeler Mueller News
Dispute Resolution

Neue Dynamik für die Videoverhandlung vor Gericht in Deutschland?

Das Bundesministerium für Justiz hat jüngst einen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vorgelegt. Ob der behutsame Ansatz mehr als 20 Jahre nach Beginn der Entwicklung den Durchbruch für Videoverhandlungen vor Gericht bedeutet, bleibt abzuwarten.

Als mit § 128a der Zivilprozessordnung (ZPO) im Jahr 2001 die Videoverhandlung in den Zivilprozess eingeführt wurde, hatte Sony Ericsson mit dem T68 gerade das erste Mobiltelefon mit einem Voll-Farbdisplay auf den Markt gebracht. In Deutschland nutzten nicht einmal 40 % der Bevölkerung das Internet. Smartphones und Videotelefonie waren noch weit entfernt. Dementsprechend gering waren Bedarf und Anwendungsfälle von Videoverhandlungen. Doch auch nach der Erweiterung der Norm im Jahr 2013 blieb die praktische Relevanz von § 128a ZPO gering. Erst mit der Covid19-Pandemie und ihren Auswirkungen auf den Gerichtsbetrieb wurden Videoverhandlungen schlagartig zum probaten Mittel in Zivilprozessen. Inzwischen haben viele Gerichte technisch aufgerüstet. Verhandlungen nach § 128a ZPO werden häufiger – bleiben aber immer noch die Ausnahme.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Nach der bisherigen Rechtslage ist das Gericht selbst bei übereinstimmendem Antrag der Parteien nicht verpflichtet, eine Videoverhandlung durchzuführen. Wenn eine Videoverhandlung durchgeführt wird, ist es den Parteien und ihren Vertretern dennoch möglich, im Sitzungssaal an der Verhandlung teilzunehmen. Für das Gericht brachte eine Videoverhandlung hingegen kaum Vorteile. Die Richterinnen und Richter mussten nach wie vor physisch im Sitzungssaal anwesend sein, unter anderem um die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung zu gewährleisten.

Diese Situation will der Gesetzgeber ändern. Mit einem Referentenentwurf von Ende November 2022 macht das Bundesjustizministerium Vorschläge für eine Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für Videoverhandlungen. Videoverhandlungen sollen einfacher durchgeführt werden. Dabei sieht der Entwurf im Wesentlichen die folgenden Änderungen vor:

  • Gerichte können nun von Amts wegen die Durchführung einer Videoverhandlung auch ohne Antrag einer Partei anordnen (§ 128a Abs. 2 Satz 1 ZPO-RefE).

  • Wenn beide Parteien übereinstimmend die Durchführung einer Videoverhandlung beantragen, ist diese im Regelfall anzuordnen. Ablehnungen müssen per Beschluss ergehen und begründet werden (§ 128a Abs. 2 Satz 2 bis 4 ZPO-RefE).

  • Beteiligte können an einer angeordneten Videoverhandlung nur auf Antrag physisch teilnehmen (§ 128a Abs. 3 ZPO-RefE).

  • Mitglieder des Spruchkörpers dürfen sich an anderen Orten als im Sitzungszimmer aufhalten. Videoverhandlungen können vollvirtuell durchgeführt werden (§ 128a Abs. 4, 5 ZPO-RefE).

  • Beweisaufnahmen können einfacher virtuell durchgeführt werden. Neben dem Zeugenbeweis soll nun auch eine virtuelle Inaugenscheinnahme möglich sein (§ 284 Abs. 2 ZPO-RefE).

  • Die Videoverhandlung kann für Protokollzwecke aufgezeichnet werden (§ 160a Abs. 1 ZPO-RefE).

Das Bundesjustizministerium will mit dem Entwurf die mündliche Verhandlung im Zivilprozess offenbar eher behutsam weiterentwickeln. Es soll einfacher werden, mündliche Verhandlungen digital durchzuführen. Gleichzeitig scheut das Ministerium davor zurück, Gerichte oder Parteien in ein vollständig virtuelles Verfahren zu zwingen. Auf Antrag einer Partei oder mit Beschluss des Gerichts ist eine (teilweise) physische Verhandlung durchzuführen. Anträge von Parteien oder deren Vertretern für eine physische Teilnahme müssen nicht einmal begründet werden. Den Anträgen ist stets stattzugeben.

Ob und in welchem Umfang die Neuregelung zu einer Zunahme von virtuellen Verhandlungen führen wird, wird auch davon abhängen, wie die Gerichte ihre eigene Sitzungspraxis gestalten. Bislang haben Parteivertreter häufig deshalb keinen Gebrauch von § 128a ZPO gemacht, weil sie sich von einem direkten Kontakt mit dem Gericht (der stets möglich war) Vorteile versprachen. Wenn die Gerichte auch zukünftig überwiegend im Sitzungssaal tagen, ist damit zu rechnen, dass das auch so bleibt. Nehmen jedoch auch die Mitglieder des Spruchkörpers von einem anderen Ort an der Verhandlung teil, würde der vermeintliche Vorteil der persönlichen Anwesenheit entfallen.

Bis zum 13. Januar 2023 läuft nun die Frist für Stellungnahmen von Ländern und Verbänden. Insbesondere in Massenverfahren, in denen oft zahlreiche gleich gelagerte mündliche Verhandlungen erforderlich sind, könnte die Reform der Videoverhandlung mit der Möglichkeit tatsächlich vollvirtueller Verhandlungen neue Dynamik bringen.

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