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(Teil-)Rückzug aus Russland – Strukturierung einer komplexen Entscheidung | Hengeler Mueller News
Geopolitik

(Teil-)Rückzug aus Russland – Strukturierung einer komplexen Entscheidung

Für alle Unternehmen, die in Russland tätig sind, stellt sich die Frage, ob sie ihre Aktivitäten angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine fortführen wollen. Rechtlich ist die Frage einfach zu beantworten, soweit die eigenen Aktivitäten nach anwendbarem Sanktionsrecht verboten sind. Schwieriger zu entscheiden ist das Vorgehen außerhalb des zwingenden Sanktionsregimes. Der Vorstand hat Ermessen; die Grundsätze der Business Judgment Rule sind zu beachten. Für die konkrete Entscheidung sind drei Fragen maßgeblich:

  • Welche Handlungsoptionen stehen zur Verfügung?

  • Welche Ziele sind für die Entscheidung maßgeblich?

  • Welche Kriterien sind bei der Beurteilung der Zielerreichung zu berücksichtigen?

Typischerweise stehen Unternehmen nicht nur die beiden Alternativen unveränderte Fortführung ihrer Aktivitäten versus vollständiger Rückzug als Handlungsoptionen zur Verfügung. Vielmehr kann das Engagement in Russland auch graduell reduziert oder eingestellt werden, beispielsweise durch

  • Verzicht auf Investitionen, Marketing und Neugeschäft unter Fortführung bestehender Verträge;

  • Einstellung der B2B-Beziehungen und Fortsetzung des B2C-Geschäfts oder jedenfalls des Verkaufs von essential goods;

  • Unterscheidung danach, ob die eigenen Produkte potenziell für kriegerische Zwecke oder deren Unterstützung verwendet werden können.

Soweit eine aktive Teilnahme am Markt beendet werden soll, ist zu überlegen, ob die Aktivitäten nur auf "ruhend" gestellt, die Mitarbeiter aber nicht entlassen und die Betriebsstätten nicht aufgegeben werden oder ob ein kompletter Rückzug erfolgen soll. Im letzteren Fall ist zu fragen, ob dieser durch einen Verkauf an einen Dritten oder schlichte Einstellung der Tätigkeiten umgesetzt wird.

Welche Ziele und Intentionen sollten für die Entscheidung maßgebend sein?

Der Vorstand hat sich bei seiner Entscheidung am Unternehmensinteresse zu orientieren. Dazu gehört jedenfalls auch der Erhalt bzw. die Verbesserung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens. Gerade im Hinblick auf einen Rückzug aus Russland stellt sich aber auch die Frage, ob ethische oder politische Erwägungen berücksichtigt werden können, auch wenn die konkrete Maßnahme wirtschaftlich nachteilig ist. Der Trend geht zu Recht in die Richtung, dies in deutlich weitergehendem Umfang als in der Vergangenheit zuzulassen. Dem Gesetz lassen sich ausreichende Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass dem Gesetzgeber keine Orientierung am reinen Shareholder Value vor Augen steht und das Unternehmensleitbild der good corporate citizen ist. Selbstverständlich sind ethischen, umweltpolitischen oder sonstigen politisch motivierten Entscheidungen, die sich nicht "lohnen", Grenzen gesetzt. Insbesondere darf das Unternehmen nicht in seinem Bestand gefährdet werden. Der Entscheidungsspielraum des Vorstands ist aber auch bei Beachtung dieser Grenzen recht weit.

Soweit der Vorstand freiwillig auch ethische oder politische Erwägungen berücksichtigt, ist wichtig, genau zu bestimmen, was erreicht werden soll: Im Hinblick auf einen Russland-Exit fragt sich, ob (lediglich) verhindert werden soll, dass eigene Produkte zu kriegerischen Zwecken missbraucht werden, oder ob ein politisches Statement gesetzt werden soll und wenn ja, ob es um eine allgemeine Distanzierung von der russischen Aggressionspolitik geht oder ob Druck auf die russische Bevölkerung ausgeübt werden soll, damit diese auf politische Veränderungen hinwirkt. Nur bei Klarheit über das Ziel kann die Eignung der ergriffenen Maßnahme beurteilt werden.

Mit Blick darauf stellt sich die Frage welche Kriterien bei der Beurteilung der Zielerreichung zu berücksichtigen sind. Hierbei sind eine Vielzahl von Kriterien zu berücksichtigen. Diese sind unabhängig davon zu analysieren, ob der Vorstand sein Verhalten allein an wirtschaftlichen oder auch an ethischen/politischen Erwägungen orientieren möchte. Zu diesen Kriterien gehören insbesondere:

  • die Analyse des rechtlichen Rahmens einschließlich der aktuell geltenden und der Abschätzung zusätzlich zu erwartender westlicher Sanktionen sowie russischer Gegenmaßnahmen;

  • Abschätzung der Auswirkungen der unterschiedlichen Handlungsoptionen auf die eigene Geschäftstätigkeit in Russland und anderen Ländern einschließlich etwaiger Störungen von Lieferkette;

  • die Auswirkungen auf bestehende Vertragsverhältnisse einschließlich Lieferpflichten und Schadensersatzrisiken;

  • die Analyse der Auswirkungen auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage, insb. der Auswirkungen einer Reduzierung des Geschäfts auf Umsatz und Ertrag, den Abschreibungsbedarf aufgrund einer Stilllegung oder Enteignung sowie finanzielle Folgelasten, beispielsweise Schadensersatzrisiken und Abfindungszahlungen an Arbeitnehmer;

  • die Auswirkungen auf Finanzkennzahlen und Rating;

  • die Auswirkungen auf IT und Datensicherheit;

  • die Auswirkungen auf Verträge der deutschen Konzernspitze, beispielsweise Kreditverträge;

  • die Auswirkungen auf die Mitarbeiter vor Ort;

  • die Auswirkungen auf die Reputation des Unternehmens;

  • das Risiko einer Enteignung durch den russischen Staat und die damit verbundene unfreiwillige Unterstützung des russischen Staates.

Ohne gründliche Analyse insbesondere dieser beispielhaft aufgeführten Kriterien für die unterschiedlichen denkbaren Handlungsoptionen ist eine sorgfältige Entscheidung kaum denkbar.

Da sich die aktuelle Situation so schnell verändert, kann sich auch unsere Bewertung der Sachlage ändern. Für Rückfragen und weitere Informationen stehen unsere Experten gerne zur Verfügung.

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